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Gwendolin

Timo durchsuchte seine Hosentasche und beförderte mit einem triumphierenden Schrei einen zerknitterten Zettel zutage. „Das müssen wir machen!“ Er wedelte mit der Papierkugel vor Julias Gesicht herum, die sichtlich genervt schien.

Gwendolin fuhr sich durch die kurzen, weißblonden Haare und unterdrückte ein Grinsen. Ihre Freundin sah aus, als würde sie innerhalb der nächsten Sekunden einen Mord begehen. Schnell nahm Gwendolin den Flyer an sich und faltete ihn auseinander.

„Wenn die Nacht kommt, ist die Angst dein schlimmster Feind“, las sie vor. „Verbringe eine Nacht in der Hütte im Wald. Bezwinge deine Angst. Stell dich der Herausforderung. Geh an deine Grenzen. Aber vor allem: Überlebe.“

„Genial!“, sagte Timo begeistert.

„Ich hatte mich auf einen entspannten Filmabend gefreut“, erinnerte Julia an die ursprüngliche Abendplanung. „Danach wollten wir aufs Stadtfest!“

Gwendolin biss sich unentschlossen auf die Unterlippe. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Nervenkitzel, den die Aktion versprach, und der Sorge, dass sie genau in dieser Nacht einen Paranoiaschub erleiden könnte. Bereits seit einigen Monaten hatte sie immer wieder das unterschwellige Gefühl, beobachtet zu werden. Beim letzten Mal hatte sich das Unbehagen sogar zu einer ausgewachsenen Angstattacke entwickelt, an die Gwendolin mit Schaudern zurückdachte. Bisher hatte sie sich nicht getraut, den anderen davon zu erzählen. Lediglich Joshua wusste Bescheid. Unsicher suchte sie den Blick ihres besten Freundes.

„Klingt echt spannend“, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu. „Filme können wir immer schauen. Aufs Stadtfest können wir morgen noch gehen. Wir verpassen nichts. Im Gegenteil. An diese Nacht in der Gruselhütte werden wir uns lange erinnern.“

„Ich hätte auch Lust, den Schattenraum auszuprobieren“, warf David, der die Diskussion bisher still verfolgt hatte, von der Seite ein.

„Wir haben nach der Schule kaum Zeit zu packen“, wandte Julia ein.

„Was willst du für eine Nacht mitnehmen?“, hielt Timo dagegen. „Schlafsack, Isomatte und persönlichen Kram. Außerdem geht’s erst am Abend los. Stell dich nicht so an.“

Julia nickte widerstrebend.

„Außerdem ist das die Gelegenheit“, fuhr Timo fort. „Ich war vorhin auf der Homepage. Der Schattenraum kostet heute nur die Hälfte. Voll günstig!“

„Kein Wunder! Immerhin ist Stadtfest! Das findet jeder spannender als eine Nacht in einem Schuppen. Mit Ausnahme von euch“, murrte Julia. „Wer organisiert das? Um auf eine solche Idee zu kommen, muss man doch komisch sein. Wer weiß, was diese Psychopathen auf uns loslassen? Die verdienen Geld, indem sie jemanden erschrecken, und finden tatsächlich irgendwelche Deppen, die dafür zahlen! Idiotisch.“

„Blödsinn!“, widersprach Gwendolin spontan. „Das Konzept ist super. Man kann einen Horrorfilm erleben, ohne sich dabei in Gefahr zu bringen. Wie eine Geisterbahn – nur realistischer und damit besser. Das spricht eher für die Organisatoren.“

„Wer veranstaltet es denn nun?“, beharrte Julia.

Joshua bedachte Gwendolin mit einem amüsierten Seitenblick und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. „Zwei Typen aus der Oberstufe“, erklärte er an Julia gewandt. „Alex und Victor.“

Bei der Erwähnung Victors spürte Gwendolin ein leichtes Flattern im Magen. Kastanienbraune Haare, dunkle Augen, die je nach Lichteinfall fast schwarz wirkten. Ein umwerfendes Lächeln. Victor sah einfach unglaublich gut aus und schien sehr nett zu sein. Zumindest ging sie davon aus, denn bisher hatte sie nicht den Mut gefunden, ihn anzusprechen. Der Schattenraum könnte die ersehnte Gelegenheit bieten. Zuerst würde sie durch ihre Gelassenheit auf sich aufmerksam machen und anschließend mit ihrem Mut beeindrucken. Spätestens bei der Abreise könnte sie mit dem Orga-Team ins Gespräch kommen. Andererseits wäre durchaus denkbar, dass diese Ausnahmesituation zu einem Angstanfall führte. In diesem Fall hätte weder Gelassenheit noch beeindruckender Mut eine Chance, und Victor würde sie für verrückt halten. Gwendolin seufzte.

„Kim war total begeistert vom Schattenraum!“, argumentierte Timo. „Wir hatten eh vor, das mal auszuprobieren.“

„Stimmt schon. Sie fand’s toll“, gab Joshua widerwillig zu.

„Ausgerechnet Kim!“, wehrte Julia ab. „Diese Irre fände es auch toll, wenn vor ihren Augen eine Katze überfahren wird.“

David schnaubte zustimmend, während Gwendolin zu Joshua schaute. Das Gespräch über seine Ex-Freundin erfüllte ihn mit offensichtlichem Unbehagen.

„Du übertreibst“, tat Timo Julias Einwand ab. „Als die beiden noch zusammen waren, hatten wir fest geplant, in den Schattenraum zu gehen. Wollen wir das echt ausfallen lassen, bloß weil sie sich getrennt haben?“

„Ihr seid wirklich alle dafür?“, vergewisserte sich Julia mit leidendem Unterton.

Als alle bestätigend nickten, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Also gut.“


Auf dem Rückweg zum Klassenzimmer schloss Gwendolin zu Joshua auf. „Alles okay?“, erkundigte sie sich leise und berührte ihn vorsichtig am Oberarm.

„Hast du es bemerkt?“ Joshua stöhnte resigniert. „Sie ist eben zufällig an uns vorbeigelaufen. Das macht mich wahnsinnig.“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „Wir sind auf dem Pausenhof! Jeder kann sich hier frei bewegen. Selbst wenn sie mich dauerhaft verfolgen würde, könnte ich sie nicht daran hindern.“

„Ich habe den Eindruck, dass sie genau das tut“, sagte Gwendolin mit einem halben Grinsen.

„Diese ganze Sache war furchtbar“, erinnerte sich Joshua beklommen. „Ich musste Schluss machen.“

„Es war die richtige Entscheidung“, versicherte Gwendolin.

Joshua nickte. „Ich weiß. Und es fühlt sich auch richtig an. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie die Trennung nicht so gut aufgenommen hat, wie sie tut. Wenn wir uns treffen, lächelt sie mich an. Doch irgendwie ist da etwas Dunkles in ihren Augen. Verdammt, ich spinne total.“

Gwendolin runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich weiß, was du meinst. Das ist bei ihr immer so. Vordergründig wirkt sie gelassen. Dann geschieht etwas wie letztes Wochenende …“ Schaudernd zog sie die Schultern hoch. „Ich weiß, dass sie deine Ex-Freundin ist. Aber sie ist mir unheimlich. Tut mir leid.“

Joshua hob die Schultern. „Kein Problem. Das mit uns war ein Fehler. Ich hätte mich von ihr fernhalten –“

„Stopp!“, zischte Gwendolin und fixierte alarmiert einen Punkt hinter Joshua. „Wenn man vom Teufel spricht …“