„Jetzt entscheidet euch mal“, forderte Julia entnervt und ließ sich auf einen morsch wirkenden Stuhl fallen, der trotz ihres geringen Gewichts bedenklich ächzte.
„Wir wären am schnellsten, wenn jeder eine Aufgabe übernehmen würde“, überlegte Timo.
„Aufteilen?“, wiederholte Gwendolin belustigt. „In Horrorfilmen beginnt das Gemetzel immer, nachdem sich die Gruppe aufgeteilt hat.“
„Wir sind nicht in einem Film“, erinnerte Timo. „Ich will nur einigermaßen geplant vorgehen.“
Julia schüttelte kategorisch den Kopf. „Ich sag’s dir zum letzten Mal: Das kannst du vergessen. Ich werde weder ohne einen von euch in der Hütte bleiben noch irgendwo mutterseelenallein in der Dunkelheit herumstapfen. Ich war von Anfang an gegen diesen Scheiß. Ich habe keine Lust, dem Erhängten seinen Besitz zu entreißen oder in die Tiefen der Erde vorzudringen!“
Julia beugte sich nach vorne und ließ ihr dunkelbraunes Haar wie einen Vorhang vor ihr Gesicht fallen. An ihrer verkrampften Körperhaltung erkannte Gwendolin, dass sich ihre Freundin wirklich unwohl fühlte.
Beschwichtigend strich sie ihr über den Arm. „Wir könnten die erste Herausforderung gemeinsam erledigen. Danach sehen wir weiter“, schlug sie versöhnlich vor.
„Tut euch keinen Zwang an.“ Julia lehnte sich abwehrend zurück.
„Hauptsache, es geht endlich los!“, drängte Timo. „Womit fangen wir an?“
David drehte das Pergament um und ging die Positionsangaben auf der Rückseite durch.
„Zwei oder drei Aufgaben können wir in der Nähe oder sogar hier drinnen erledigen“, stellte er fest.
„Wieso zwei oder drei?“, wollte Julia wissen. „Überall werden konkrete Orte genannt. Mehr oder weniger.“
„Folgt dem Schattenpfad durch die Finsternis“, rezitierte David. „Dieser Punkt beginnt zwar direkt vor der Hütte, klingt aber, als würde man sich davon entfernen. Außerdem bin ich nicht scharf darauf, ohne Licht durch den Wald zu irren.“
„Du hast recht“, stimmte Timo zu. „Vermutlich soll Finsternis bedeuten, dass wir keine Lampen mitnehmen dürfen.“
Gwendolin seufzte fast unhörbar. Sie fragte sich, wann diese Diskussion ihr Ende finden würde. Die Anweisungen zum Überleben klangen allesamt unheimlich und versprachen Spannung. Ihr war es völlig egal, welche sie davon zuerst in Angriff nahmen.
„Lüftet das Geheimnis der Kiste“, las Timo vor und deutete mit dem Kinn auf die große Truhe. „Das klingt harmlos. Und wir müssen den Schattenraum dafür nicht verlassen.“
„Könnte schnell gehen“, bekräftigte David.
Gespannt versammelten sie sich um das Behältnis. Mittlerweile war es draußen komplett dunkel geworden, sodass lediglich schummriges Licht den Raum erfüllte. Mit wenigen Handgriffen öffnete Timo die Verriegelung. Langsam hob den Deckel empor.
Julia stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und sprang einen Meter nach hinten. Auch David wich angeekelt einige Schritte zurück, während Timo ein würgendes Geräusch von sich gab. Gwendolin reckte den Hals, um herauszufinden, was ihren Freunden eine solche Reaktion entlockte.
Als sie den Inhalt der Kiste sah, spürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Die Truhe war fast randvoll mit Insekten und anderem Kleingetier. Auf den ersten Blick bewegte sich nichts, doch es war nicht ausgeschlossen, dass sich einige lebendige Exemplare darunter befanden.
„Mach sie zu!“, brüllte Julia. „Mach sie wieder zu!“
Timo brauchte lediglich Sekunden, um Julias Aufforderung nachzukommen. Unschlüssig umringten sie die Truhe.
„Ich schätze, der Knochen, den wir besorgen sollen, befindet sich da drin.“ Timo lachte gekünstelt.
„Du wirst das Mistding nicht erneut öffnen!“, verlangte Julia mit einem eindeutig hysterischen Unterton. „Wer weiß, welches eklige Krabbelzeug diese Bekloppten hineingepackt haben! Es gibt nur ein Zimmer! Das soll nicht von irgendwelchen Spinnen und anderem Getier verseucht werden.“ Sie schaute unbehaglich im Raum umher, als stünde ein Angriff der Kisteninsassen unmittelbar bevor.
„Wir können nicht gleich bei der ersten Aufgabe das Handtuch werfen“, hielt Timo dagegen. „Wir sind keine halbe Stunde da und geben schon auf? Wegen ein paar kleinen Tierchen, die noch dazu tot sind?“
„Und wenn beim nächsten Öffnen irgendwelche Viecher entkommen?“, wandte Julia schrill ein. „Hier ist es so dunkel, dass wir es nicht einmal bemerken würden. Ich kann darauf verzichten, dass plötzlich eine Wanze auf meiner Schulter sitzt. Oder Schlimmeres.“
„Auf den ersten Blick hat sich nichts bewegt“, hielt Timo entgegen, sah aber selbst nicht überzeugt aus.
„Bitte!“, versetzte Julia schnippisch. „Wenn du wild darauf bist, in diesem Friedhof der Krabbeltiere herumzuwühlen, dann mach doch.“ Sie verschränkte ablehnend die Arme und nahm demonstrativ am großen Holztisch Platz, in sicherer Entfernung von der Truhe samt ihrem gefährlichen Inhalt.
Gwendolin unterdrückte ein Grinsen.
„Also … Ich weiß nicht …“, stammelte Timo ausweichend. „Mit Kleingetier hab ich’s nicht so.“ Hilfe suchend schaute er zu David.
„Vergiss es“, wehrte dieser knapp ab.
„Ich wäre auch bereit, die nächste Aufgabe zu übernehmen. Egal, was es ist“, startete Timo einen erneuten Versuch. „Versprochen.“
„Timo“, knurrte David warnend. „Ernsthaft. Ich werde das nicht tun.“
„Schade, dass Josh nicht da ist“, sagte Timo bedauernd. „Der hätte das Ding durchforstet, ohne mit der Wimper zu zucken. Vielleicht fangen wir mit etwas anderem an? Es gibt schließlich elf weitere Herausforderungen. Wir müssen ja nicht alle lösen, um das Lager des Agrimals zu finden.“
Gwendolin warf einen skeptischen Blick auf die Kiste. „Ich mach’s.“
Bevor die letzte Silbe verklungen war, bereute sie ihre spontane Entscheidung. Hatte sie gerade tatsächlich angeboten, in einen Haufen Krabbelzeug zu greifen? Selbstüberwindung in Ehren, aber das war echt eklig. Wer wusste schon, was sich in der Tiefe verbarg? Timos hoffnungsvoller Gesichtsausdruck hielt sie jedoch davon ab, ihre Zweifel zu formulieren.
„Wow, Gwendolin“, lobte er anerkennend. „Total mutig.“
Gwendolin nickte mit zusammengepressten Lippen und schob die Ärmel ihres Pullovers hoch. Keine Schwäche zeigen. Den Widerwillen nicht anmerken lassen. Immerhin konnte es sein, dass sie vom Orga-Team und damit von Victor beobachtet wurde. Der erste Eindruck war ausschlaggebend. Gerade vor ihm wollte sie sich keine Blöße geben.
Mit gemischten Gefühlen wuchtete sie den Deckel der Kiste empor. Ohne noch einmal über den Inhalt nachzudenken, versenkte sie den Arm inmitten des Gewimmels.