„Lass uns loslegen.“ Timo warf einen letzten Blick auf die Anweisungen. „Wendet euch mit der Hütte im Rücken nach Südosten. Zwanzig große Schritte führen zum Ziel“, las er vor.
Gemeinsam traten sie in die dunkle Nacht hinaus. Gwendolin fröstelte. Sie hätte wärmere Klamotten mitnehmen sollen. Im flackernden Licht der Petroleumlaterne prüfte sie den Kompass und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. In der vorgegebenen Richtung befand sich das Toilettenhäuschen, und sie ahnte bereits, dass ihr Weg sie geradewegs dorthin führen würde.
„Uh“, machte Timo. „Trinkt zu Ehren der Toten hinter dem Plumpsklo. Das ist ja eine tolle Kombination“, sprach er Gwendolins Gedanken laut aus. „Echt lecker.“
Während die beiden die wenigen Meter zwischen Hütte und Häuschen zurücklegten, spürte Gwendolin plötzlich ein Prickeln zwischen den Schulterblättern. Gleichzeitig überlief sie ein kühler Schauer. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. Bitte nicht. Nicht ausgerechnet heute Nacht. Mittlerweile kannte sie die Vorboten. Zuerst das vage Gefühl, beobachtet zu werden. Dann der Eindruck, dass etwas näher kam, sich immer weiter an sie heranschlich, bis sie vor Panik völlig durcheinander war. Die Angst, die mit eisigen Fingern nach ihr griff. Das durfte auf keinen Fall geschehen.
Unauffällig bemühte sie sich um eine regelmäßige Atmung. Warum war Joshua nicht da? Er würde sie unterstützen und dafür sorgen, dass die anderen nichts merkten. Um alles in der Welt wollte sie vermeiden, dass die aufsteigende Unruhe zu einer ausgewachsenen Attacke wurde.
Stumm und um Fassung ringend sah sie zu, wie Timo nach kurzer Suche hinter dem Klohäuschen eine Flasche entdeckte.
Gemeinsam kehrten sie in die Hütte zurück. Als sie die Tür hinter sich zuzog, stellte Gwendolin erleichtert fest, dass die Beklommenheit etwas abnahm. Die Bedrohung hatte sich in den Schatten zurückgezogen und lauerte auf die nächste Gelegenheit. Für einen Moment erwog Gwendolin, die gesamte Schattenraum-Aktion abzubrechen. Aber mit welcher Begründung?
Mit einem Knall stellte Timo die Flasche auf den Tisch und riss Gwendolin unsanft aus ihren Grübeleien. Im gedämpften Licht der Lampe betrachteten sie das trübe Glas, hinter dem eine dunkle Flüssigkeit träge hin und her schwappte. Auf der Vorderseite befand sich ein verblichenes Etikett mit der knappen Aufschrift „Trink mich“.
„Trinkt zu Ehren der Toten„, zitierte Timo und musterte die Flasche unentschlossen. „Ich will gar nicht wissen, was sie uns bei Speist an der Geistertafel vorsetzen. Sieht nicht sonderlich appetitlich aus, das Zeug.“
Gwendolin nickte. „Eher ziemlich widerlich“, bestätigte sie. „Ich bin nicht sicher, ob es –“
„Ich hatte versprochen, die nächste Aufgabe zu übernehmen“, unterbrach Timo und verzog das Gesicht. „Vielleicht habe ich Glück, und es ist einigermaßen lecker.“
Bevor Gwendolin etwas entgegnen konnte, hatte er schon den Schraubverschluss aufgedreht und die Öffnung an die Lippen gesetzt. Unbehaglich schaute Gwendolin zu, wie er mit großen Schlucken die Hälfte des Inhalts leerte.
„Schmeckt gar nicht übel“, eröffnete Timo zufrieden. „Ich tippe auf Malzbier mit Sirup oder Honig. Die wollen schließlich nicht, dass wir ihnen die Hütte vollkotzen. Es geht lediglich um die Angst vor dem Unbekannten.“
Er prostete Gwendolin zu und stürzte den Rest der Flüssigkeit mit einem Zug hinunter. Lässig wischte er sich mit der Hand über den Mund. Als er die Flasche auf der Tischplatte abstellte, ertönte ein leises Klirren. Aufmerksam beleuchtete Timo das matte Glas mit der Lampe.
„Da ist etwas drin“, stellte er fest und drehte die Flasche auf den Kopf, woraufhin ein kleiner Gegenstand herausfiel.
„Wir hätten sie auch gleich auskippen können“, murmelte Gwendolin. „Dann hättest du diesen Mist nicht trinken müssen.“
„Und wir hätten uns den Tipp abschminken können. Die Orgas überprüfen, ob die Aufgaben erfüllt wurden“, erinnerte Timo und beäugte den Knochen auf seiner Handfläche. „Offensichtlich ist dies das benötigte Teil.“ Er legte das Fragment demonstrativ auf den Tisch. „Ich bin froh, dass ich mich nicht daran verschluckt habe“, fügte er mit einer Grimasse hinzu.
Sekunden später dröhnte die verzerrte Stimme durch den Raum. „Ihr habt eine Aufgabe erfüllt und euch damit den zweiten Hinweis verdient. Das Lager des Agrimals befindet sich weder im Süden noch im Westen des Schattenraums.“
Erneut hielt Timo die Informationen auf seinem Block fest. Gwendolin runzelte skeptisch die Stirn. Es blieb nur zu hoffen, dass die folgenden Tipps schneller ins Detail gingen, ansonsten würden sie eine Ewigkeit brauchen, um die benötigten Hinweise zusammenzutragen. Was, wenn Joshua doch …
Entschlossen schob sie den Gedanken an ihren besten Freund weit weg. Es war denkbar unwahrscheinlich, dass ihm tatsächlich etwas zugestoßen war. Sie befanden sich inmitten eines Gruselprogramms. Und bis vor ein paar Stunden hatte sie sich sogar darauf gefreut, eine unheimliche Nacht in der Hütte zu erleben. Sie hatte bloß nicht damit gerechnet, dass ein dermaßen authentisches Szenario auf sie warten würde. Gwendolin atmete tief durch. Sie würde sich wohler fühlen, wenn das Orga-Team zumindest bestätigen würde, dass es sich um eine arrangierte Entführung handelte. Aber was würde Victor denken, wenn sie das Lügenkonstrukt wie ein kleines Kind ernst nahm und allem Glauben schenkte, was man ihnen auftischte? Sollte Joshua tatsächlich mit dem Orga-Team gemeinsame Sache machen, würde ihre Nachfrage unweigerlich zu einer üblen Blamage führen.
Trotzdem wünschte sie sich Klarheit. Die Sorge um ihren besten Freund in Kombination mit der drohenden Gefahr eines weiteren Paranoiaschubs führten dazu, dass ihre Nerven blank lagen. Sie musste das Risiko eingehen.
„Du, Timo“, begann sie zögerlich. „Ich würde gerne das Orga-Team kontaktieren. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl wegen Joshua.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“, japste Timo ungläubig.
Gwendolin starrte auf ihre Finger und suchte verzweifelt nach einer Erklärung für ihre Bedenken, ohne dabei ihr Geheimnis zu offenbaren. „Joshua hätte uns nicht alleine gelassen“, sagte sie schließlich lahm.
Timo schüttelte den Kopf. „Mensch, Gwendolin“, stöhnte er. „Du wirst nicht auf ihre Täuschung reinfallen, oder? Das gehört alles zum Plan! Die wollen, dass wir uns Sorgen machen. Die wollen Zweifel säen! Du verhältst dich kindisch! Das muss dir doch klar sein!“
„Und wenn schon“, erwiderte Gwendolin verärgert. „Wir müssen ja nicht abbrechen. Ich will nur eine Bestätigung, dass Joshuas Verschwinden und der Drohbrief tatsächlich zum Schattenraum-Konzept gehören. Diese Wendung passt nicht zu der Agrimal-Geschichte, merkst du das nicht?“
„Du ruinierst die ganze Stimmung!“, hielt Timo entgegen. „Echt, Gwendolin. Ich dachte, du seist cool und hättest Spaß am Gruseln. Ich hätte nicht erwartet, dass gerade du dich so anstellst. Das ist lächerlich!“