Mühsam versuchte Joshua, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Seine Gedanken rasten. Er musste einen Weg finden, um Kim zu seiner Freilassung zu überreden. Zumindest musste er Zeit gewinnen. Während sie mit ihm redete, würde sie ihn hoffentlich nicht umbringen. Jede Minute, die er das Gespräch hinauszögern konnte, erhöhte die Chance, dass ihn jemand entdeckte.
„Sind die anderen auch in der Nähe?“, sprach er die erste Frage aus, die ihm in den Sinn kam. Als er Kims verärgertes Knurren hörte, wurde ihm klar, dass er das denkbar ungeschickteste Thema angeschnitten hatte.
„Natürlich“, zischte sie. „Deine Freunde sind mal wieder wichtiger als alles andere.“
„Damit meinte ich nicht –“, begann Joshua abwehrend, doch Kim ließ ihn nicht aussprechen.
„Entschuldige“, raunte sie sanft. Abrupt veränderte sich ihre Aggression in verstörende Freundlichkeit, die Joshua in höchste Alarmbereitschaft versetzte. „Ich wollte dich nicht anfahren. Du hast Vertrauen zu deinen Freunden. Das ist gut. Das wird dir Kraft geben und dich in den kommenden Stunden nicht durchdrehen lassen.“
„Nicht durchdrehen?“, wiederholte Joshua mit hysterischem Unterton. Mit Mühe konnte verhindern, dass seine Stimme wegbrach.
„Deine Freunde sind tatsächlich ganz in der Nähe“, offenbarte Kim. „Sie haben sogar die Chance, dich zu retten.“
„Was?“, krächzte Joshua fassungslos. Kims Enthüllungen waren dermaßen absurd, dass er für einige Sekunden seine Angst vergaß. „Wieso ziehst du die anderen mit hinein? Was willst du überhaupt erreichen? Bist du verrückt geworden?“
„Die perfekte Möglichkeit, um mit dir und deiner blöden Clique abzurechnen“, erklärte Kim, ohne auf seine Beleidigung einzugehen. „Besonders mit der dämlichen Gwendolin. Deiner besten Freundin. Sie wird es ganz besonders bedauern, wenn sie morgen früh versteht, worum es wirklich ging. Sie wird sich vorwerfen, die Warnung ignoriert zu haben. Der Brief, den ich im Schattenraum hinterlegt habe, beweist unmissverständlich, dass du in Schwierigkeiten steckst.“
„Aber –“, setzte Joshua an.
„Deine Freunde glauben, alles sei inszeniert“, unterbrach Kim zufrieden. „Wenn sie merken, dass du in echter Gefahr schwebst, ist es schon zu spät. Ich fürchte, diese Nacht könnte deine letzte sein.“
„Warum tust du das?“, fragte Joshua hilflos. Mit brennenden Augen starrte er in die ihn umgebende Dunkelheit.
„Du warst alles, was ich wollte. Mehr wäre nicht nötig gewesen, um mich glücklich zu machen. Und etwas Glück habe ich nach den vergangenen Jahren verdient. Normal sein. Ein normales Leben führen. Deine Freunde haben alles kaputtgemacht. Dafür werden sie bezahlen. Seit ich letzten Monat selbst den Schattenraum besucht habe, weiß ich, dass sich hier die perfekten Möglichkeiten zur Abrechnung bieten.“
„Mehrere Möglichkeiten?“, hakte Joshua beunruhigt nach.
„Eigentlich hatte ich vor, dich zu verschonen“, fuhr Kim fort, als hätte sie seinen Einwand nicht gehört. „Ich wollte lediglich deinen Freunden einen Denkzettel verpassen. Meinst du, mir wäre nicht aufgefallen, wie abfällig sie mich mustern? Wie schlecht sie über mich reden? Ich wollte diesen Abend mit dir verbringen. Wir hätten uns gemeinsam über die Panik deiner Freunde amüsieren können. Sie sind schließlich hergekommen, um sich schocken zu lassen.“ Sie machte eine kurze Pause, während Joshua versuchte, ihre Worte zu verarbeiten. „Heute Morgen wurde mir klar, dass aus uns niemals wieder ein Paar werden wird“, stieß sie hervor. „Du hast mich bloßgestellt und gedemütigt. Alle haben über mich gelacht. Du hast mein Herz gebrochen und bist darauf herumgetrampelt. Das wird dir noch leidtun.“
Joshua empfand tatsächlich ehrliches Bedauern. Insbesondere bereute er den Moment, als Kim in sein Leben getreten war. Erschöpft schloss er die Augen und hoffte, alles würde sich als schräger Albtraum herausstellen. Als er die Lider öffnete, hatte sich an seiner katastrophalen Situation jedoch nichts verändert.
„Du sagst nichts mehr“, stellte Kim fest. „Um ehrlich zu sein, hätte ich mit einer Entschuldigung gerechnet.“
„Es tut mir leid“, versicherte Joshua sofort, erkannte aber, dass seine Beteuerung keinesfalls glaubwürdig wirkte.
Kim schnaubte nur abfällig.
„Komm schon“, unternahm Joshua einen neuen Versuch, seine Ex-Freundin umzustimmen. „Du hattest deine Rache. Wir sind quitt! Du hast meine Freunde hinters Licht geführt und mich betäubt, verschleppt und in eine Kiste gesperrt.“
„Sarg“, korrigierte Kim ruhig. „Du liegst in einem Sarg. Gehört zum Arrangement des Schattenraums. Leider konnten sich die Versager vom Orga-Team bloß das Sparmodell leisten, sonst wäre es deutlich bequemer für dich.“
„Und jetzt?“, wollte Joshua wissen.
Kims Antwort ließ ihn seine Frage direkt bereuen. „Wenn du Glück hast, werden sie genügend Aufgaben lösen und dich finden, bevor du erstickst“, eröffnete sie und klang dabei völlig entspannt.
„Bevor ich ersticke?“, wiederholte Joshua entsetzt.
„Ja“, erwiderte Kim mit einem fröhlichen Lachen. „Wenn erst Erde auf dem Sarg liegt, wird irgendwann die Luft knapp werden. Ich kann dich nicht offen herumstehen lassen. Bei dem Lärm, den du veranstaltest, wäre es zu einfach, dich zu finden. Es soll schließlich eine Herausforderung sein. Dein Leben als Gewinn.“
„Kim“, beschwor er sie eindringlich. „Hol mich raus!“
Krampfhaft versuchte er, sich nicht von der emporkriechenden Verzweiflung überwältigen zu lassen.
„Hab Vertrauen zu deinen Freunden“, empfahl Kim spöttisch. „Du tust ohnehin alles, was sie dir sagen. Übernimmst ihre Meinung. Machst dich komplett von ihnen abhängig. Im Wesentlichen hat sich an deiner Situation nichts geändert. Ich habe deine Abhängigkeit lediglich um den körperlichen Aspekt ergänzt.“
„Kim“, flehte Joshua. „Bitte …“
„Tut mir leid, Joshi“, wehrte Kim hart ab. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Vielleicht hast du Glück. Ich wünsche es dir. Glaub nicht, dass ich das gerne tue.“
Mit Grauen hörte Joshua, wie eine Ladung Erde prasselnd auf sein Gefängnis fiel. „Nein!“, brüllte er mit voller Kraft. „Nein! Kim! Das kannst du nicht machen! Du wirst mich umbringen!“
Für einen Moment herrschte Stille. Joshua schöpfte neue Hoffnung.
„Spar deine Energie“, riet Kim ungerührt. „Wenn der Sarg erst mal komplett bedeckt ist, könnte die Luft bis zu drei Stunden ausreichen. Allerdings nur, wenn du ruhig atmest. Leider fehlte mir die Zeit für umfassende Recherchen. Es wäre auch möglich, dass du bereits nach einer Stunde erstickst. Du wirst es herausfinden.“
Erneut begann Joshua zu schreien.