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Gwendolin

Mit stummem Entsetzen hatten sie Kims Ansprache gelauscht. Gwendolin biss sich angespannt auf die Unterlippe. Das konnte kein Teil des Schattenraum-Konzepts sein. Dafür war es viel zu individuell auf sie zugeschnitten. Eine solche Vorbereitung hätte das Orga-Team kaum stemmen können. Zumal in dem Fall auch Kim an dem Schauspiel beteiligt wäre. Sie hätte sich niemals an einem Unterhaltungsprogramm für ihre Gruppe beteiligt, insbesondere nicht nach der Szene heute Morgen.

Hilflos musterte sie ihre Freunde. Julia hatte das Gesicht in den Handflächen vergraben. Timo hing so kraftlos auf dem Stuhl, dass ihn lediglich die Tischplatte davor bewahrte, auf den Boden zu sinken. David war zwar blass, wirkte aber recht gefasst. Seine Wunde schien jedoch weiterhin zu bluten, denn der Verband um seinen Unterarm wurde zunehmend feuchter. Ihre beiden Freunde waren in desolatem Zustand.

„Wir sollten die Polizei rufen“, forderte Gwendolin, woraufhin Julia ein ersticktes Stöhnen von sich gab.

„Was willst du ihnen erzählen?“, fragte David resigniert. „Die werden uns kein Wort glauben. Immerhin sind wir in der Hütte, um in Angst und Schrecken versetzt zu werden. Das ist hervorragend gelungen“, fügte er mit einem bitteren Lachen hinzu und deutete auf die Kamera.

„Wir könnten erzählen, dass eine Verrückte Joshua entführt und die Orgas ausgeschaltet hat? Dass einer meiner Freunde anscheinend vergiftet wurde, während der andere durch eine sabotierte Aufgabe fast verblutet?“, erwiderte Gwendolin gepresst. „Wir sitzen in dieser bescheuerten Hütte fest. Wir müssen –“

Sie hielt abrupt inne, als sie eine Bewegung draußen vor dem Fenster bemerkte. Schlagartig kam die Angst, die unter der Oberfläche gelauert hatte, wieder hoch und erfüllte ihr Inneres mit eisiger Kälte. Wie gelähmt starrte sie in die Dunkelheit hinter der trüben Scheibe.

David folgte ihrem Blick. „Was hast du?“

„Irgendjemand ist da draußen“, flüsterte Gwendolin und kämpfte verzweifelt gegen die aufsteigende Panik.

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür wenige Zentimeter.

„Lasst euch nicht anmerken, dass wir hier sind“, sagte eine Stimme. „Ihr dürft nicht in unsere Richtung sehen. Diese Kim ist total durchgeknallt. Sie hat uns mit einer Waffe bedroht. Keine Ahnung, was sie tun wird, wenn sie uns auf dem Monitor sieht.“

„Es gibt keine Tonübertragung“, ergänzte eine zweite Stimme. „Benehmt euch, als wäre alles ganz normal. Sucht scheinbar eine neue Aufgabe aus. Kommt raus, damit wir sprechen können.“

Gwendolins Gedanken rasten. Draußen vor der Hütte mussten die beiden Orgas stehen. Damit war ausgeschlossen, dass es sich um eine Täuschung handelte. Die Gefahr war echt. Geistesgegenwärtig breitete sie die Liste der Herausforderungen auf dem Tisch aus und wählte zufällig einen Punkt aus.

„Entreißt dem Erhängten seinen Besitz“, legte sie fest und prüfte die Ortsangabe auf der Rückseite. „Lasst uns da weitermachen.“

Die anderen nickten zustimmend. Lediglich Timo zeigte keine Reaktion.

„Timo?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

„Ich bleibe noch sitzen“, wehrte er schwach ab. „Ich habe den Eindruck, dass es etwas besser wird.“

Gwendolin strich ihm aufmunternd über den Oberarm und ergriff eine der beiden Petroleumlampen. „Schon okay. Wir klären das.“

Gemeinsam traten sie in die Nacht hinaus. Die schummrige Laterne erhellte nur wenige Meter, und die Schwärze, die außerhalb wartete, wirkte feindselig und undurchdringlich.

„Da seid ihr ja“, sagte die gleiche Stimme, die sie eben dazu aufgefordert hatte, den Anweisungen zu folgen.

Gwendolin hob die Lampe ein wenig höher, um dem Sprecher ins Gesicht zu leuchten. Unmittelbar beschleunigte sich ihr Herzschlag. Zum ersten Mal an diesem Abend nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Victor. Er erwiderte ihren Blick aus seinen dunklen Augen, die im Dämmerlicht fast schwarz wirkten. Gwendolin ignorierte das nervöse Flattern in ihrem Magen und drehte verlegen den Kopf zur Seite. Schräg hinter Victor stand ein schlaksiger Typ in einer Kapuzenjacke, der sie besorgt musterte. Alex. Victors bester Freund, den sie ebenfalls vom Sehen kannte, weil er sich auf dem Schulhof meistens in seiner Nähe aufhielt.

„Was ist geschehen?“, fragte Victor direkt an sie gewandt. Gwendolin schluckte und richtete sich ein wenig auf. Gelassen bleiben. Bedauernd begrub sie den Gedanken an die perfekte erste Unterhaltung, die sie in ihrer Fantasie schon so oft durchgespielt hatte, und schilderte die Vorgänge der vergangenen Stunden. Victor und Alex lauschten stumm ihrem Bericht, doch ihre Mienen wurden immer düsterer.

„Und jetzt wäre ich dankbar, wenn ihr lachend eröffnen würdet, dass ihr lediglich herausragende Organisationstalente seid und die gesamte Aktion geplant habt“, beendete Gwendolin ihre Erzählung mit einem hoffnungsvollen Unterton.

Victor und Alex schauten sich beklommen an und schüttelten synchron den Kopf. Im gleichen Moment ging hinter ihnen die Hüttentür auf.

„Leute? Ich glaube, es wird wieder schlim–“, brachte Timo zittrig hervor und klammerte sich an den Türrahmen. Bevor er die letzte Silbe aussprechen konnte, gaben seine Beine nach. Mit einem gequälten Ächzen brach er zusammen.