25
Victor

Er atmete tief durch und beschwor seinen Herzschlag auf ein normales Maß herunter. Ihre überwältigende Nähe, der frische Duft ihrer Haare, ihr warmer Atem auf seiner Haut hatten seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt. Gwendolins schlanker Körper fühlte sich in seinen Armen noch besser an, als er es sich ausgemalt hatte. Am liebsten hätte er ihre vorübergehende Schwäche ausgenutzt, um endlich umzusetzen, was er sich seit Wochen wünschte. Am liebsten hätte er sie geküsst. So lange, bis sie beide die katastrophale Lage vergessen hätten, in der sie sich befanden. Victor runzelte die Stirn. Das wäre verdammt unfair gewesen. Sie hatte lediglich Trost gesucht. Das bedeutete gar nichts. Andererseits hatte Gwendolin das Gesicht an seinen Hals geschmiegt. Sie hatte sich nicht gewehrt, als er sie fester an sich zog. Sie hatte zugelassen, dass er mit den Lippen ihre Stirn berührte. Victor seufzte unterdrückt. Er hätte sie viel früher ansprechen sollen. Dann hätte ihre erste Annäherung nicht mit einer Angstattacke im nächtlichen Wald begonnen.

Entschieden schob er die Überlegungen in den Hintergrund und prüfte seine Armbanduhr. Im Moment hatten sie ganz andere Probleme. Kurz vor elf. Wie lange konnte ein Mensch in einem Sarg überleben? Hatte diese Verrückte tatsächlich Erde darauf geschaufelt? Oder handelte es sich nur um einen grausamen Bluff? Befand sich Joshua in Sicherheit, verfolgte ihre Bemühungen und amüsierte sich prächtig? Machte er mit dieser Kim gemeinsame Sache? Wenn das der Fall war, würde er es bereuen. Doch konnte sich Gwendolin in ihrem besten Freund so täuschen? Sie schien absolut überzeugt, dass Joshua in Lebensgefahr schwebte.

Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte, die Finger weiterhin fest mit Gwendolins verschlungen. Wenn dieser Albtraum überstanden war, würde er sie um eine Verabredung bitten. Pizzeria, Eisdiele oder Kino. Aber kein Horrorfilm.

In den nächsten Minuten herrschte Schweigen. Seit dem gemurmelten Dank hatte Gwendolin keine Silbe von sich gegeben.

„Wir sind fast da“, versuchte er, sie aufzumuntern.

Keine Antwort. Dafür verkrampfte sich ihre Hand, die er noch immer in seiner hielt. Alarmiert drehte er den Kopf, um ihr ins Gesicht zu blicken. Was er dort sah, erfüllte ihn mit großer Beunruhigung. Ihr Ausdruck war eine verzerrte Maske der Angst. Verdammter Mist. Sie hatten keine Zeit, um darauf zu warten, dass sich Gwendolin erholte. So gerne er sie erneut in seine Arme geschlossen hätte: Wenn Joshua wirklich in diesem Sarg lag, durften sie sich keine weiteren Verzögerungen leisten. Sie hatten bereits wertvolle Minuten verloren. Zudem war die Verrückte mit der Knarre vermutlich auch im Wald unterwegs.

„Gwendolin“, beschwor er sie. „Du musst die Panik zurückdrängen.“

Sie starrte mit geweiteten Augen in die umgebende Nacht. „Irgendjemand kommt“, krächzte sie heiser. „Ich spüre es ganz deutlich.“

Victor überlief ein eiskalter Schauer. Gwendolins Entsetzen wirkte dermaßen echt, dass er selbst Mühe hatte, entspannt zu bleiben. Angestrengt widerstand er dem Impuls, ebenfalls planlos in die Dunkelheit zu spähen und sich zu vergewissern, dass niemand jäh aus dem Dickicht hervorbrechen würde. Verärgert rief er sich zur Ruhe. Statt gemeinsam mit ihr nervös zu werden, musste er versuchen, seine Gelassenheit auf sie zu übertragen. Seine Gelassenheit, die sich schlagartig in Luft auflöste, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sekundenbruchteile später stand ein schwarzer Schatten wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen.

„Na endlich. Ich warte schon seit Ewigkeiten!“, sagte Kim und versetzte Gwendolin einen brutalen Tritt in die Kniekehlen, sodass diese stolperte und unsanft auf der Erde landete. „Wieso habt ihr so lange gebraucht?“

Victor streckte automatisch die Hände aus, um ihr aufzuhelfen, und zuckte zusammen, als er den kühlen Stahl einer Pistole an seiner Schläfe fühlte.

„Du rührst dich besser nicht“, empfahl Kim. „Dachtet ihr ernsthaft, ich hätte nicht bemerkt, dass ihr die Flucht ergreift? Hat mich gewundert, dass ihr nicht früher aus dem Fenster gestiegen seid.“ Während er sich zur völligen Reglosigkeit zwang, zuckte Victors Blick zu Gwendolin. Sie hockte am Boden und wirkte abwesend und desorientiert.

Kim war die minimale Bewegung nicht entgangen. „Schlechte Entscheidung, diesen Versagern zu Hilfe zu kommen“, informierte sie ungerührt. „Sie sind es nicht wert, dass ihr euch für sie in Gefahr begebt. Aber dafür ist es nun zu spät.“

Victor schluckte. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, sich aus der heiklen Situation zu befreien.

„Woher hast du die Pistole?“, sprach er den ersten Gedanken aus, der ihm in den Sinn kam. Irgendwie musste er Zeit gewinnen, bis sich Gwendolin wieder gefangen hatte.

„Das ist deine größte Sorge?“ Kim lachte verächtlich. „Die Erklärung würdest du weder verstehen noch glauben.“

In diesem Moment wurde Victor endgültig klar, dass Kim völlig durchgedreht war. Es war sicherer, die Unterhaltung nicht weiterzuführen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese Irre auf eine Provokation reagieren würde, selbst wenn diese nur eingebildet war.

„Irgendwer kommt näher“, schluchzte Gwendolin atemlos. Sie hatte sich zusammengekauert und den Kopf in den Handflächen vergraben. Von ihrer Seite war nicht mit Hilfe zu rechnen. Sie war völlig in ihrem Wahn gefangen.

„Weißt du, eigentlich wollte ich Joshua lediglich benutzen, um mich unauffällig Gwendolin zu nähern“, erzählte Kim, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Als ich ihn richtig kennenlernte, änderte sich plötzlich alles. Joshua ist etwas ganz Besonderes. In seiner Anwesenheit konnte ich die Hölle der letzten Jahre vergessen. Ich weiß, dass wir füreinander bestimmt sind. Aber er hatte Zweifel. Daran seid ihr schuld“, wandte sie sich an Gwendolin, die mit keiner Reaktion erkennen ließ, dass sie Kims Worte gehört hatte. „Andauernd habt ihr über mich gelästert und Joshua kritisiert. Heute wollte ich gemeinsam mit ihm meine wohlverdiente Rache genießen. Gemeinsam mit ihm wollte ich zuschauen, wie euch meine sabotierten Aufgaben in heillose Panik versetzen. Ich hatte diese Überraschung für ihn bis ins kleinste Detail geplant. Dann hat er sich heute Morgen endgültig von mir abgewandt. Letztendlich habt ihr es doch geschafft, uns auseinanderzubringen. Er war zu schwach, um eurem Einfluss zu widerstehen. Dafür wird er sterben. Ihr habt mich dazu gezwungen, Joshua zu opfern. Ihr habt mich gezwungen, meine Liebe zu verraten. Dafür wirst du sterben. Aber zuerst ist dieser Orga-Idiot dran, der sich unbedingt – “ Kim verstummte abrupt und lauschte in die Nacht. „Verflucht“, murmelte sie leise. „Jetzt schon?“

Mit Schrecken hörte Victor, wie Kim die Pistole entsicherte, deren Lauf sich noch immer an seiner Schläfe befand.

„Sorry, Victor“, stieß sie gehetzt hervor. „Keine Zeit mehr für weitere Bekenntnisse. Ihr hättet euch wirklich nicht einmischen sollen.“

Gwendolin wimmerte erstickt. Sie hatte sich auf die Knie erhoben und starrte auf einen Punkt hinter Victor. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich grenzenloser Horror ab. Er traute sich nicht, den Kopf zu wenden, aus Angst, Kim könnte eine Bewegung als Angriff deuten und abdrücken.

„Sie sind da“, flüsterte Gwendolin tonlos.