Victor hastete durch die Dunkelheit. Da er nur auf sich selbst achten musste, kam er deutlich besser voran als zuvor. Bereits nach wenigen Metern brandete das schlechte Gewissen in ihm empor und wurde mit jedem Schritt, den er sich von Gwendolin entfernte, stärker. Er hatte sie im Stich gelassen. Weshalb hatte er nicht versucht, sie aufzuhalten? Wieso hatte er dem Befehl des Unbekannten bereitwillig gehorcht? Das war irrsinnig, insbesondere nach Kims verstörender Tat. Obwohl ihm seine Entscheidung vor wenigen Minuten noch schlüssig erschienen war, konnte er sich seine Reaktion jetzt nicht mehr erklären. Doch auch Gwendolins Benehmen war merkwürdig. Sie hatte lediglich Augen für den Fremden gehabt. Ihn selbst hatte sie keines Blickes gewürdigt. Als hätte es die vorsichtige Annäherung im Wald nie gegeben. Trotzdem war das für ihn keine Rechtfertigung, einfach ohne sie abzuhauen. Von wegen Draufgänger. Victor knirschte mit den Zähnen. Er hatte sich von ihr abgewandt, obwohl sie ihm kurz zuvor ihre Ängste anvertraut hatte. Offensichtlich waren diese Typen für ihre Paranoiaschübe verantwortlich. Und ausgerechnet bei ihnen hatte er sie zurückgelassen. Für einen Moment zog Victor in Erwägung, umzudrehen und Gwendolin zu Hilfe zu kommen. Andererseits hatte er bereits den Großteil der Strecke zum Lager des Agrimals hinter sich. Zudem befürchtete er, dass Joshua seine Unterstützung nötiger hatte.
Beunruhigt prüfte er seine Armbanduhr und beschloss, die nagenden Schuldgefühle vorerst zu ignorieren. Durch Kims unvermuteten Angriff und die anschließende Eskalation hatten sie viel Zeit verloren. Wertvolle Minuten, in denen der Sauerstoff in Joshuas Grab beständig abnahm.
Um Gwendolins Beweggründe und sein eigenes beschämendes Verhalten konnte er sich kümmern, wenn er sich vergewissert hatte, dass Joshua noch lebte.
Bereits nach wenigen Minuten sah er im schummrigen Licht der Petroleumlampe die Umrisse des großen Findlings, den sie als Grabstein auserkoren hatten und der das Herz des Verbannungsrituals war. Victor blieb ruckartig stehen. Die Stelle, die für das Finale vorgesehen war, sah nicht mehr so aus, wie Alex und er sie am Nachmittag verlassen hatten. Eigentlich sollte die Gruppe ein etwa ein Meter tiefes Loch mit einem offenen Sarg, dem Kernstück der Beschwörung, vorfinden. Statt der erwarteten Grube erhob sich vor dem Findling ein frischer Erdhaufen. Kim hatte tatsächlich nicht geblufft.
Mit bloßen Händen begann Victor hektisch, Erde und Steine zur Seite zu schaffen. Bereits nach wenigen Minuten waren seine Hände völlig verdreckt und er blutete aus unzähligen Schrammen. Mit Verspätung fiel ihm ein, dass Alex für alle Fälle hinter dem Felsen eine Schaufel deponiert hatte. Mit dem aktuellen Szenario hatte er dabei garantiert nicht gerechnet.
Nach kurzer Suche wurde Victor fündig. Mit dem Werkzeug kam er deutlich schneller voran. Bereits wenige Schippen später stieß das Schaufelblatt mit einem dumpfen Schlag auf harten Untergrund. Das Erdreich war locker und dadurch leicht zu lösen. Fieberhaft arbeitete Victor weiter und hatte die Oberfläche bald soweit freigelegt, dass es möglich war, den Deckel zu öffnen. Im Stillen beglückwünschte er Alex und sich zu der Entscheidung, das Grab flach angelegt zu haben. Er war nicht sicher, wie lange er nach den vergangenen Ereignissen durchgehalten hätte.
Victor warf die Schaufel beiseite und kniete sich auf die weiche Erde. Mit wenigen Handgriffen hatte er die beiden Verschlüsse gelöst. Gerade wollte er den Sargdeckel nach oben wuchten, als dieser so kräftig aufgestoßen wurde, dass er brutal an seine Finger prallte. Victor zuckte zurück und stöhnte auf. Gleichermaßen vor Schmerz wie vor Erleichterung. Wer sich von innen derart fest gegen das Holz stemmen konnte, war definitiv nicht tot.
„Alles okay?“, erkundigte er sich gepresst.
„Wer bist du?“, antwortete Joshua mit einer Gegenfrage, während er sich vorsichtig aufsetzte und sich mit beiden Händen die Schläfen massierte. Seine Knöchel waren aufgeschürft, seine Fingernägel abgebrochen und blutig. „Wo ist Kim?“
Innerhalb der nächsten Minuten informierte Victor über die Geschehnisse der letzten Stunden und erfuhr im Gegenzug, wie Kim dafür gesorgt hatte, dass Joshua im Sarg gelandet war.
„Sie wusste, dass wir hier sein würden. Sie hat uns heute Morgen belauscht“, erinnerte sich Joshua schaudernd. „Sie muss diese Aktion seit ihrem eigenen Schattenraumbesuch vor ein paar Wochen geplant haben. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie so gründlich vorbereitet war. Ursprünglich hatte sie vor, mich einzuweihen. Sie wollte mit mir einen gemütlichen Abend verbringen, während die anderen den von ihr entworfenen Albtraum durchleben sollten. Der Gedanke, mich tatsächlich in den Sarg zu sperren, kam ihr erst nach unserem Streit. Die Freundschaft zu Kim war ein riesengroßer Fehler.“ Joshua schloss für einige Sekunden die Augen und atmete tief durch. „Diese Nacht ist der absolute Horror.“
„Es tut mir leid, dass euch der Schattenraum in solche Gefahr gebracht hat“, sagte Victor niedergeschlagen. „Timo wurde vergiftet. Julia ist nachhaltig verstört. David hat eine heftige Schnittverletzung. Kim ist tot. Und du …“
„Du hast mich rechtzeitig gefunden“, erwiderte Joshua. „Ich war kurz vorm Einschlafen. Ohne dich wäre ich nicht mehr aufgewacht.“
Victor nickte wortlos. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und versuchte zu ignorieren, dass noch immer Teile von Kim daran klebten.
„Bleibt nur eines zu klären“, stellte Joshua nach einer längeren Pause unbehaglich fest. „Wo ist Gwendolin?“