Ruhig bleiben. Das waren nur winzige Tierchen. Keine wirkliche Bedrohung. Mit aufeinandergebissenen Zähnen tastete Gwendolin den Boden der Kiste ab. Fühler, Gliedmaßen oder Zangen kratzten über ihre bloße Haut. Gwendolin wurde das Gefühl nicht los, dass sich etwas Lebendiges zwischen den Käferleichen befand. Bei jeder Bewegung schabten die Körper mit einem ekelerregenden Klicken aneinander. Gwendolin war dankbar, dass sie im Schummerlicht der Petroleumlampe, die Timo in sicherem Abstand zur Kiste hielt, kaum etwas erkennen konnte. Flach atmend wühlte sie sich durch das Gewimmel und unterdrückte schaudernd den Gedanken an unliebsame Überraschungen, die inmitten der Überreste versteckt sein könnten.
Endlich stießen ihre Fingerspitzen gegen einen Gegenstand, dessen glatte Oberfläche sich von dem rauen Holz des Kistenbodens abhob. Beherzt griff Gwendolin zu und beförderte kurz darauf einen großen, fahlweißen Knochen hervor. Daran war mit Paketschnur ein dunkler Briefumschlag geknotet.
Sie ließ aufatmend den Deckel zufallen und trat einige Schritte zurück. Vorsichtig legte sie den Knochen samt Umschlag auf den Tisch. Bevor sie ihn näher in Augenschein nehmen konnte, stieß Julia einen markerschütternden Schrei aus und brachte sich mit einem Satz hinter dem Tisch in Sicherheit. Polternd kippte ihr Stuhl um.
„Was ist?“, fragte Gwendolin irritiert.
Julia zeigte zitternd auf Gwendolins Oberarm. „Da …“
Gwendolin folgte ihrem Blick und zuckte zusammen. Anscheinend waren die Bewohner der Kiste doch nicht alle verstorben. Knapp oberhalb ihres rechten Ellbogens saß eine große Spinne, die verstörend lebendig wirkte und sich gerade anschickte, zu ihrer Schulter emporzuklettern. Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte Gwendolin den achtbeinigen Besucher von ihrem Arm und prüfte hektisch ihren Pullover, um auszuschließen, dass weitere Angreifer den Weg aus der Kiste gefunden hatten.
„Töte sie!“, quietschte Julia hysterisch, während die Spinne die Chance ergriff und im Höchsttempo in einer dunklen Nische verschwand, von denen es unzählige in der Hütte gab.
„Zu spät“, stellte David mit einem Grinsen fest.
„Oh Gott“, stieß Julia derart verzweifelt hervor, dass es fast nach einem Schluchzen klang. „Ich werde kein Auge zutun, wenn ich weiß, dass dieses Biest hier herumkrabbelt!“
„Ich denke nicht, dass wir überhaupt zum Schlafen kommen“, unternahm Timo einen ungeschickten Trostversuch. „Wir haben Aufgaben zu erledigen.“
Wie um seine Worte zu bestätigen, ertönte plötzlich ein trockenes Knacken und kurz darauf eine verzerrte Stimme, bei der sich Gwendolins Nackenhaare aufstellten.
„Ihr habt eine Aufgabe erfüllt und euch damit den ersten Hinweis verdient. Das Lager des Agrimals befindet sich in einem Umkreis von zwei Kilometern.“
Noch bevor die letzte Silbe verklungen war, hatte Timo bereits Stift und Papier aus seinem Rucksack gezogen und den Hinweis notiert.
„Das war’s schon?“, vergewisserte er sich enttäuscht, doch die geisterhafte Stimme blieb stumm. Gwendolin runzelte nachdenklich die Stirn. Entweder wollte das Orga-Team keine Antwort geben oder es hatte Timos Frage nicht gehört.
„Auf jeden Fall gibt es eine Kamera“, überlegte sie laut. „Ansonsten hätten sie kaum den Moment erwischt, in dem der Knochen auf den Tisch gelegt wurde.“
Aufmerksam sah sie sich im Zimmer um und wurde direkt fündig. In der rechten Ecke oberhalb der Eingangstür befand sich eine Kamera, deren rot glühender Punkt sie boshaft anstarrte.
Gwendolin rieb sich fröstelnd über die Oberarme. Die Grundidee dieses Spiels erschien ihr durchaus lustig. Aber seit Joshuas unvermittelter Absage konnte sich keine rechte Begeisterung einstellen. Dazu kam das ungute Gefühl, beobachtet zu werden.
Gwendolin schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Natürlich wurden sie beobachtet. Das gehörte zum Schattenraum-Konzept. Irgendwie musste das Orga-Team schließlich überprüfen, dass alles nach Plan lief. Dennoch kam ihr zum ersten Mal an diesem Abend der Gedanke, es sei besser gewesen, diese Aktion ohne Joshua nicht durchzuziehen.
Schnell konzentrierte sie sich wieder auf ihre Freunde. Timo hatte sich mittlerweile dem Brief zugewandt, der an dem Knochen befestigt war. Argwöhnisch überzeugte er sich davon, dass kein Ungeziefer daran hing, und entnahm dem Umschlag einen eng beschriebenen Papierbogen. Er stellte die Laterne neben sich auf den Tisch, um ausreichend Licht zum Lesen zu haben.
„Jetzt werden wir erfahren, welch geheimnisvolle Informationen dieses Dokument birgt“, verkündete er dramatisch und faltete den Brief auseinander.